UTOPIA 

Fotografie zwischen Traum und Vision


„Es geht um den Umbau der Welt zur Heimat, ein Ort, der allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ Ernst Bloch
Wenn Menschen in der Lage sind, weit über ihre Grenzen hinauszugehen, nicht geglaubte Ressourcen zu aktivieren, ungeahntes Durchhaltevermögen zu zeigen und in höchstem Maße innovative Schritte zu gehen, dann liegt dem häufig ein ungebrochener Zukunftsglaube zugrunde. Sich vom Altgriechischen als „Nicht-Ort“ ableitend, beschreibt die Utopie eine positive Zukunftsperspektive auf die Gesellschaft, welche als Gegenentwurf zu einer aktuellen Schief- oder Misslage steht.


Der englische Renaissance-Humanist Thomas Morus prägte diesen Begriff im 16. Jahrhundert mit seinem Roman „De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia“ (Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia). Darin entwirft der Autor ein fiktives und paradiesisch anmutendes Bild des menschlichen Miteinanders. Er manifestiert ein idealisiertes Wertesystem und hält damit der zeitgenössischen Politik und Gesellschaft Englands einen kritischen Spiegel vor. So entwirft eine Utopie immer eine Idee. Sie malt einen Traum aus oder zeichnet ein konkretes Bild, welches das Leben bereichern, Leid oder Probleme abwenden und uns glücklicher und zufriedener machen soll. Dieser idealisierte Zukunft- und Fortschrittsglaube speist die aufklärerischen Gesellschaftsutopien des 18. Jahrhunderts, die wissenschaftsgetriebenen Utopien des 19. und die technisch getriebenen, futuristischen Utopien des 20. Jahrhunderts.


Damit ist die Utopie eine Hoffnung, die einen nicht geglaubten Antrieb freisetzen kann. Sie ist ein Traum von einer anderen Wirklichkeit. In einer ferneren Zukunft angesiedelt, gibt sie einen Vorgeschmack darauf, wie es sein könnte und macht den Unterschied zur aktuellen Situation im Hier und Jetzt fühlbar. Es ist die mit der Utopie einhergehende Hoffnung, die Energie freisetzt und zu hochwirksamen Handeln aktivieren kann.
Im Gegensatz zu konstruktiv-idealisierenden Utopien stehen dystopische Visionen, welche warnend ein kritisches Zukunftsbild zeichnen. Aber auch diese meist in düsteren Farben gezeichneten Szenarien dienen letztlich dazu, unseren Blick auf problematische Bereiche in der aktuellen Wirklichkeit zu fokussieren und zum Handeln anzutreiben. Seit der Jahrtausendwende begleiten uns filmische Weltuntergangsvisionen, wie etwa Roland Emmerichs „The Day After Tomorrow“, die Klimakatastrophen vorwegnehmen und die Selbstrettung und Wiederauferstehung einer geläuterten Menschheit thematisieren.
Auf den Mars fliegen oder verborgene Schätze auf dem Meeresgrund finden – als Kinder bewegt sich unser Geist frei und wir träumen ohne Grenzen und Einschränkungen. Indem wir uns im Erwachsenwerden in die Gesellschaft integrieren, uns Strukturen aneignen, um unseren Alltag zu bewältigen, geht uns die Fähigkeit, Träume zuzulassen und Visionen frei zu denken, leicht verloren. Der fiktive Traum weicht zunehmend dem Pragmatischen und Rationalen und wird zum Gegenpol.


Auch das Verständnis der Utopie verändert sich im Laufe der Geschichte und erfährt damit eine scheinbare Gegensätzlichkeit. Während Thomas Morus die evasive Utopie, eine fiktive Weltflucht, begründet, welche sich mit Bildern und Vorstellungen befasst, die in unerreichbarer Ferne liegen, lenkt die konkrete Utopie, weiterentwickelt von Ernst Bloch im 20. Jahrhundert, den Blick auf die Umsetzbarkeit der zu verändernden Strukturen in der Zukunft. Lebt die evasive Utopie im höchsten Maße von der Kraft der Emotion, so nimmt die konkrete Utopie reale Bedingungen und Gegebenheiten als Grundlage, um eine Zukunftsvision zu kreieren, welche realistische Chancen hat, einmal Wirklichkeit zu werden. Stehen sich diese Pole nun gegenüber? Schließen sie einander aus oder haben sie nicht vielleicht auch das Potenzial, Hand in Hand zu gehen?
Wie unterschiedlich demnach die in die Zukunft gerichteten Perspektiven sein können!


So zeigen sich auch in dieser Ausstellung sehr verschiedene Blickwinkel und Herangehensweisen an diese Thematik. Politisch und gesellschaftlich motivierte Utopien finden sich in Architektur oder Raumplanung unserer Städte wieder und laden ein, auf ihre Auswirkung hin untersucht zu werden. Können sich gut gemeinte Utopien als Dystopien entpuppen? Oder gelingt es, dem betongrauen urbanen Alltag in paradiesische Trompe-l’œils zu entfliehen? Vielleicht aber auch emanzipiert sich letztlich die ausgebeutete Natur und feiert ihren Eroberungsfeldzug über das Menschengemachte. Horizonterweiternd mag da ein Perspektivwechsel von unseren Breitengraden auf die Weiten des Kosmos und seine Bahnen sein. Im Gefüge einer höheren Dimension wird die Vergänglichkeit und Unscheinbarkeit des Menschen spürbar.


Der Blick in die Zukunft, bezogen auf das soziale Miteinander sowie realen Begegnungen ist ungewiss und vielen Unsicherheiten unterworfen. Es ist die Herausforderung neue Umgangsweisen zu entwickeln, echte Beziehungen zu realisieren und sich dabei in die Spannung zwischen Verletzlichkeit und Authentizität zu begeben. Utopien richten den Blick in die Zukunft, laden ein, alte Wege zu verlassen und neue einzuschlagen. Der Blick zurück auf einst entworfene eigene Utopien kann frustrieren, bildet er doch häufig nicht die aktuelle Lebenssituation ab.


Die Herausforderung besteht darin, immer wieder zwischen Akzeptanz und Veränderungsbereitschaft zu balancieren. Stetig in Weiterentwicklung begriffen, fordern Utopien jede Generation heraus, selbst neu zu denken und das Jetzt mit nachhaltigem Leben und Kultur zu füllen.


Marcus Hähndel